Ein Dankbarkeits-Tagebuch führen
Als ich begann, ein Dankbarkeits-Tagebuch zu schreiben, fiel es mir immer mal wieder schwer, Freude zu empfinden über ein erfülltes Bedürfnis. Manchmal ging es um Wertschätzung, dann wieder um Vertrauen und Geborgenheit- manchmal betraf es auch Menschen, denen gegenüber es mir sehr sehr schwerfiel, Dankbarkeit zu empfinden. Das fand ich schade und verstand es auch nicht so recht. Eines Tages jedoch, mitten im Schreiben, kam ich mir auf die Spur.
Ich schrieb gerade über ein schmerzhaftes Erlebnis, mit dem ich mich einem Kollegen anvertraut hatte. Seine Art damit umzugehen, erfüllte bei mir das Bedürfnis nach Vertrauen. Da war ich mit meiner Erfahrung und mit meinen Tränen sicher und geborgen. Beim Aufschreiben wollte ich mich eigentlich darüber freuen, aber es kam mal wieder keine rechte Freude auf. Ich spürte in mich hinein und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Nach einigen Minuten kam mir eine andere Situation in den Sinn, die wenig freudvoll war:
Damals, auf einer Geburtstagsfeier, in einer Runde von Erwachsenen, sprach ich als 10-jährige einmal von „unserem Auto“. Da entgegnete ein naher Verwandter: „Das ist nicht dein Auto. Mach‘ die Augen zu, dann siehst du, was dir gehört.“ Vertrauensvoll schloss ich die Augen und sah leider nicht das Schlaraffenland vor meinem inneren Auge, sondern: nichts. Rein gar nichts. Stattdessen hörte ich leises Kichern um mich herum. Da dämmerte mir langsam, dass ich an der Nase herumgeführt worden war. Man wollte mir wohl auf diese Weise beibringen, dass ein Kind nichts besitzt …. .
Ich schämte mich schrecklich und lief schnell weg. Es war in mir, als hätte ein scharfer Wind die Erde über den zarten Wurzeln meiner Seele weggeweht. Jetzt lagen sie bloß und schutzlos da. Und weit und breit war niemand zu sehen, der mir beigestanden hätte. Da packte ich meinen Schmerz ganz weit weg, in meinen sicheren, inneren Bunker. Das sollte mir nicht noch mal passieren – Schluss mit dem Vertrauen!
Erst jetzt beim Schreiben meines Tagebuches, kam der alte Schmerz aus einem sicheren Versteck. Ich weinte. Welche Erleichterung! Es kam mir so vor, als hätte die Verletzung schon lange auf einen Tag gewartet, an dem ich ihr mein Herz öffne. Wie eine Pflanze, die an den Wurzeln beschädigt ist und die darauf wartet, wieder genährt zu werden. Sie möchte so gerne ihre Blüte entfalten und sich ihres Lebens freuen.
Vielleicht will sich auch bei dir trotz der Erfüllung des einen oder anderen Anliegens keine rechte Freude einstellen. Oder fällt es dir bei einer bestimmten Person schwer, Dankbarkeit wahrzunehmen oder auszudrücken? Dann nimm dir einen Moment Zeit, um dem nachzuspüren. Gibt es vielleicht Verletzungen um das Bedürfnis herum, die aus anderen Erlebnissen herrühren? Oder ist mit der Person etwas verbunden, das noch weh tut? Ist da eine Verletzung, ein Ärger oder etwas anderes, das ans Licht möchte, das Empathie braucht?
Gib‘ diesen Gefühlen und Bedürfnissen in dir dann Empathie – vielleicht holst du dir dazu auch Unterstützung. Damit sich deine Blüten nach Herzenslust entfalten und du dich über das freuen kannst, was du jetzt und hier und heute erlebst.
Ingrid Holler: „Energie Auftanken“ (Junfermann 2006)
Wir veröffentlichen den Auszug aus diesem Buch mit Einverständnis unseres Kooperationspartners Junfermann Verlag. Für uns ist dies Ausdruck eines gelebten Miteinanders für das wir uns herzlich bedanken.
#WortederWoche